Frankreich/Mulhouse September 2022

Donnerstag, 22.9.

Wir nehmen ein Treffen meines Rotary-Clubs in Mulhouse zum Anlass für ein verlängertes Wochenende im Elsass. Am Donnerstag fahren wir über Freiburg zunächst nach Neuf-Brisach, direkt hinter der Grenze. „Neubreisach“ wurde Ende des 17. Jahrhunderts für Ludwig XIV. von Festungsbauer Prestre de Vauban auf dem Reißbrett entworfen. Die Stadt hat einen 8eckigen Grundriss mit doppelter Festungsmauer, die in 8 Wehrtürmen endet. Die Straßen sind schachbrettförmig angelegt und führen alle auf den großen Exerzier- und Marktplatz in der Mitte. Der ist wirklich riesig angesichts der Größe des Dorfs mit seinen 2000 Einwohnern. Immerhin gibt es dort ausreichend Parkplätze, auch für unser Wohnmobil.

Historischer Plan der barocken Festung Neuf-Brisach mit ihrem achteckigen Grundriss (Quelle: Wikipedia)
Die Festungsanlangen sind heute ein riesiger Park um das Städtchen herum.

Wir wollten uns nicht nur das Städtchen anschauen, sondern vor allem eine Street Art Gallery, die in einem Teil der Kasematten in der Festungsanlage untergebracht ist: MAUSA Vauban. Den Tipp hatten wir übrigens von einer Reisesendung im Fernsehen, und dieser Besuch war schon die ganze Reise wert! Seit der Eröffnung 2018 wurden und werden Street-Art-Künstler aus der ganzen Welt eingeladen, um jeweils einen Bereich des 1200 qm großen Gewölbekellers zu gestalten. Echt beeindruckend.

Marcos Rodrigo („Wark da Rocinha“) ist der erste Graffiti-Künstler der riesigen Favela Rocinha in Rio de Janeiro.
Die beeindruckendste Installation überhaupt ist vom Pariser Künstler Julien Malland, alias Seth.
Markenzeichen des Brasilianers Fabio de Oliveira Parnaiba alias „Cranio“ (Schädel) sind blaue indigene Figuren.
„Jaune“ aus Brüssel arbeitet mit Schablonen von Bauarbeitern, die er in humorvollen Szenen arrangiert.
PEZ aus Barcelona bringt mit seinen lachenden Figuren Fröhlichkeit in den urbanen Alltag.

Nach dem Besuch fahren wir – nach einem Abstecher in einen französischen Supermarkt! – weiter nach Mulhouse, wo wir uns auf dem sehr netten Campingplatz installieren.

Freitag, 23.9.

Bis wir ausgeschlafen, gefrühstückt und ein bisschen herumgekruschtelt haben, ist es früher Nachmittag. Wir spazieren entlang eines Kanals in die Stadt und bewundern auf dem Weg wiederum ziemlich gute Street Art, die auf die Rückseite von alten Industriegebäuden gesprüht wurde. Die Altstadt von Mulhouse ist nicht sonderlich groß und schnell erkundet. Am nächsten Tag werden wir erfahren, dass die Stadt auch weniger bekannt ist für ihren mittelalterlichen Kern als vielmehr für die lange industrielle Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert reicht. Nicht umsonst wurde Mulhouse als das „französische Manchester“ bezeichnet.

Zurück auf dem Campingplatz erwarten uns schon meine rotarischen Freunde Martin und Ruth, die mit ihrem Wohnwagen direkt aus Spanien hergefahren waren. Wir verabreden uns zum Apéro, der nahtlos ins Abendessen übergeht. Am Ende geht unser gemütliches Campertreffen bis nach Mitternacht. In echter Campingtradition harren wir dabei die ganze Zeit mit Decken und Fellen im Freien aus.

 Samstag, 24.9.

Am Samstag Mittag beginnt das eigentliche Programm. Anlass ist ein sogenanntes Partnerclub-Treffen der befreundeten Rotary-Clubs aus Kreuzlingen, Augsburg und Mulhouse. Die Mulhouser haben anlässlich des 90jährigen Bestehens ihres Clubs ein besonderes Programm auf die Beine gestellt. Hier einige Auszüge:

Die Mulhouser empfangen uns in einem hippen Restaurant in einer ehemaligen Maschinenfabrik, dem Nomad Café. Das Café ist in einem alten Industriequartier von Mulhouse angesiedelt, genannt „La Fonderie“ (Giesserei). Was es damit auf sich hat, erklärt uns in der anschliessenden Führung Pierre Fluck, Professor für Technikgeschichte und Industrie-Archäologie an der Uni Haut-Alsace. Mulhouse blickt auf eine lange industrielle Vergangenheit zurück. Bereits im 18. Jahrhundert wurden textilverarbeitende Manufakturen gegründet – zunächst in der mittelalterlichen Altstadt. Später wurden größere Fabriken rund um die Altstadt angesiedelt, und in den 1820er-Jahren ein ganz neues Industrieviertel gegründet, die Fonderie. Hinter dieser Entwicklung stand die Industriellenfamilie Köchlin, die im 18. Jahrhundert aus der Schweiz (genauer, aus Stein am Rhein) eingewandert war. André Koechlin gründete eine Maschinenfabrik, die Eisenbahnen ebenso herstellte wie Industrie- und Dampfmaschinen sowie Waffen und Munition. Diese Gründung ist übrigens Vorläuferin der heutigen ALSTOM.

André Koechlin baute die erste französische Dampflokomotive, „Napoleon“, die er 1837 auf einer Teststrecke von Mulhouse nach Thann einsetzte. Start dieser Teststrecke war „Kilometer 0“ in der Fonderie. Die Teststrecke war Vorläuferin der ersten Eisenbahnlinie von Basel nach Strasbourg.

Die Fonderie besteht aus einer Ansammlung zum Teil riesiger Fabrikgebäude in Backsteinarchitektur. Das grösste dieser Gebäude wurde als „Kathedrale“ bekannt – eine „Kathedrale der Arbeit“, wie sich Professor Fluck ausdrückt. Heute ist hier ein Campus der Universität Haute-Alsace für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Jura untergebracht. In anderen ehemaligen Industriegebäuden sind eine Kunstakademie sowie ein Kunstmuseum etabliert.

La Fonderie: Neue Nutzung für alte Industriegebäude.

Während Pierre Fluck über die Industriearchitektur der Fonderie und ihre geschichtlichen Hintergründe referiert, bekommen wir von Rotarier und Drohnenspezialist Gabriel Martin einen Einblick in das „KM0“ genannte Gebäude. Es bietet Platz für diverse digitale Start-ups und beherbergt eine Akademie, in der Interessierte ohne Zugangsvoraussetzung zu Programmieren ausgebildet werden. Die Akademie ist auf der Suche nach „Genies“, die möglicherweise den herkömmlichen Bildungsweg nicht absolvieren konnten oder wollten. Ausgebildet und gefördert wird, wer will und kann. Ein weiterer Referent ist Morgan Zeller, dessen Unternehmen „Première Place“ im KM0 beherbergt ist und sich auf Suchmaschinen-Optimierung spezialisiert hat.

In der digitalen Ideenschmiede KM0 sind noch die alten Deckenförderanlagen zu sehen.

Sonntag, 25.9. 

Der Sonntag beginnt mit dem Besuch des 1.-Weltkrieg-Denkmals „Hartmannswillerkopf“, einem knapp 1000 m hohen Berg, von dem aus man einen Panoramablick auf das Rheintal hat. Wegen der guten Sicht war er im 1. Weltkrieg von strategischer Bedeutung und vor allem im Kriegsjahr 1915 heftig umkämpft. Die Franzosen beschossen das Schlachtfeld beim Hartmannswillerkopf von den Vogesen-Tälern aus, die Deutschen aus der Rheinebene. Die Truppen verschanzten sich in Schützengräben, die nur wenige Meter auseinander lagen. Unter unvorstellbaren Bedingungen (Kälte, Nässe, Ungeziefer, Schmutz, ständiger Gefechtslärm) mussten die Soldaten kämpfen und zahlten einen immensen Blutzoll. 30.000 Soldaten fielen am Hartmannswillerkopf, der bis Kriegsende umkämpft war. Tragischerweise gab es keinerlei Geländegewinne, das Sterben war völlig umsonst. Die Frontlinie zog sich über 90 km die ganze Vogesenkette entlang bis Strasbourg. Heute noch sind am Hartmannswillerkopf die Schützen- und die Versorgungsgräben sowie die Granatlöcher zu sehen. Und heute noch wird regelmäßig Munition aus der Erde geborgen.

Ehemaliger Versorgungsgraben – früher tiefer. Hier wurden Munition und Verpflegung auf Pferden transportiert.

Nach Kriegsende wurden Tausende Gefallene exhumiert und bestattet, wobei der Namen der Toten häufig nicht ermittelt werden konnte. Anfang der 20er Jahre errichteten die Franzosen ein Nationaldenkmal, das nach einer Renovierung zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns zu einem deutsch-französischen „Memorial“ umgewandelt und von beiden Staatspräsidenten eröffnet wurde: ein Zeichen für die deutsch-französische Versöhnung.

Soldatenfriedhof der Franzosen auf dem Hartmannswillerkopf.
Symbolischer Waffenschild mit 625 cm Durchmesser im Zentrum des Memorials.

Nach der Besichtigung des Memorials und des angeschlossenen Museums sind wir alle ziemlich still und betroffen. Der anschließende Besuch in einem Elsässisch-zünftigen Berggasthaus hellt die Stimmung allerdings wieder auf.

Es ist schon später Nachmittag, als wir wieder auf dem Campingplatz sind. Wir verabschieden uns von Martin und Ruth, die noch einige Tage bleiben wollen, und machen uns auf den Heimweg, diesmal über Basel.

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